Von Hiobsbotschaften und einem letzten Hoffnungsschimmer

Hati beim Klettern

Hati nach ihrer Rettung (Bild: BOSF)

Praktisch ihr ganzes Leben lang verbrachte die heute 5-Jährige Riana im Käfig - mit einem dicken Strick um den Hals und an eine schwere Eisenkette gelegt. Sie wird erlöst und gesellt sich zu vier weitere gerademal zwei- bis dreijährigen Orang-Utan-Säuglingen, die in den letzten Wochen von der Borneo Orangutan Survival Foundation (BOS Stiftung) gerettet wurden. Mit Blähbäuchen, völlig abgemagert, dehydriert oder von Würmern befallen wurden auch sie aus winzigen Käfigen befreit. Traumatisierte Häuflein Elend, die mit ansehen mussten, wie ihre Mütter erschlagen oder erschossen wurden.

 

97% der DNA dieser Orang-Utan-Babys entsprechen der DNA meines eigenen Sohnes. In ihrem Verhalten und Empfinden sind sie uns und unseren Kindern so ähnlich, dass einem fast schlecht wird bei der Vorstellung, wie wir mit ihnen umgehen. Es ist noch nicht mal März und das BOS-Rettungsteam musste bereits fünfmal ausrücken, um Babys aus illegaler Haustierhaltung zu konfiszieren.

Gleichzeitig scheinen sich Meldungen über so genannte „orangutan killings“ zu häufen. Mit einem Luftgewehr attackierten Bauern erst neulich einen ungebetenen Gast auf einer Plantage. Über 130 Patronen fanden Tierärzte im Körper des ausgewachsenen Orang-Utans - 70 allein in seinem Schädel. Auf das Tier wurde brutal eingeschlagen und eingestochen. Als es gefunden wurde, lebte es noch. Angeblich aus Notwehr wurde kurz zuvor ein weiterer Orang-Utan erlegt. 17 Luftgewehrschüsse wurden auf ihn abgefeuert. Anschliessend wurde auch dieses Tier zu Tode gequält, dann geköpft und in einen Fluss geschmissen. 

 

130 Schuss - ist das noch Wilderei? Sind das nur Einzelfälle oder womöglich Anzeichen eines Musters – einer Verrohung der Gesellschaft? Was passiert mit dem Arten- und Naturschutzbewusstsein von Menschen, die jahrzehntelang miterleben, wie die schlimmsten Umweltverbrechen unserer Zeit unbestraft und lukrativ vor ihrer Haustüre passieren? Häufen sich Misshandlungen und Tötungen von Orang-Utans oder werden solche Vorfälle nur häufiger publik? Wächst der illegale Haustierhandel mit Orang-Utan-Babys oder werden die Opfer nur öfter den zuständigen Behörden gemeldet und an Organisationen wie BOS übergeben? Und wohin führt das Ganze?

130 Schuss Bild

Röntgenbild (Bild: Center for Orangutan Protection)

Populationsdichte

Populationsdichte Borneo-Orang-Utans (Graph: Voigt et al. 2018: 5)

Eine sehr klare Antwort auf letztere Frage liefert eine neue Langzeitstudie des Max Planck Institutes (MPI) für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig, die gerade eben in der Fachzeitschrift "Current Biology" publiziert wurde. Von der BBC bis zum Economist hat die Weltpresse daraufhin über eine Entwicklung berichtet, vor der die Artenschutz-Gemeinschaft schon lange warnt: In nur anderthalb Jahrzehnten reduzierte sich die Population der Borneo-Orang-Utans um fast 150.000 Tiere. Der Verlust an Lebensraum (v.a. durch das Anlegen von Plantagen oder Bergbau) macht den grössten Anteil im Rückgang der Population aus. Allerdings ist die grösste Anzahl an verschwundenen Orang-Utans in Waldgebieten, die u.a. auch für die Holzwirtschaft genutzt werden, zu beobachten. Die Autoren der MPI-Studie folgern daraus, dass die Wilderei als Bedrohungsfaktor bis dato unterschätzt wurde.

 

Seit Jahren kommunizieren wir, dass 80% der Regenwälder auf Borneo bereits zerstört sind, dass die Orang-Utans in den letzten 20 bis 30 Jahren deshalb knapp 60% ihres natürlichen Lebensraumes verloren haben und dass ihr Bestand im selben Zeitraum um 80% zurückgegangen ist. Je nach Quelle ist heute die Sprache von nur noch knapp 55.000 bis 100.000 Borneo-Orang-Utans. Bis zum Jahr 2050 könnten laut der MPI-Studie nochmals mehr als 50.000 Borneo-Orang-Utans verschwunden sein.

Gut, dass die MPI-Studie dem abstrakten Begriff „Orang-Utan-Sterben“ eine konkrete Zahl zuweist. Gut, dass die Studie die Aufmerksamkeit der Weltpresse geweckt und bei der Weltöffentlichkeit Entsetzten ausgelöst hat. Biologen werden zitiert, die betonen, man müsse nun alles tun, um diese Entwicklung aufzuhalten. Wie genau sinnvolle Lösungsansätze aussehen wird leider nicht genannt.

 

Gut, dass es in der Schweiz eine Organisation gibt, die sich explizit dem Schutz der Borneo-Orang-Utans und dem Erhalt ihres Lebensraumes verschrieben hat. Seit fast 15 Jahren unterstützt die BOS Schweiz das derzeit grösste Primatenschutzprogramm der Welt – die beiden Rettungsstationen der BOS Stiftung auf Borneo.

 

Auf die Fragen, wieso sich der Orang-Utan-Schutz auf Borneo so schwierig gestaltet, kennen wir eine einfach Antwort: die Spezies steht national wie international unter strengem Schutz. Ihr Lebensraum in der Regel aber nicht. Und hier liegt auch der Grund begraben, wieso es wenig Sinn macht, die aktuelle MPI-Studie mit Experten zu diskutieren, die sich mit Sumatra-Orang-Utans auskennen. Die Situation und Bedrohungslage dort ist schlichtweg nicht 1:1 übertragebar auf Borneo: Während 65% der wenigen, noch lebenden Sumatra-Orang-Utans in geschützten Waldgebieten beheimatet sind, ist das in Borneo gerade nicht der Fall. Hier leben 80% der verbleibenden Tiere in nicht geschützten Gebieten, wie das Orangutan Population and Habitat Viability Assessment 2017 der indonesischen Regierung zeigt. Daraus ergibt sich eine besonders prekäre Bedrohungslage. Sie erklärt, wieso die Borneo-Orang-Utans mittlerweile als akut vom Aussterben bedroht gelistet werden, obwohl es von ihnen im Vergleich zu den Sumatra-Orang-Utans noch relativ viele gibt.

 

Vor allem aber hat diese besondere Bedrohungslage Auswirkungen auf sämtliche Bereiche unserer Arbeit – v.a. auf unsere Auswilderungsstrategie und auf unsere Zusammenarbeit mit denjenigen, die das Überleben der letzten Borneo-Orang-Utans vor Ort gefährden.

Ecky nach der Rettung

Ecky nach der Rettung (Bild: BOSF)

Riana nach ihrer Rettung

Riana ohne Strick und Kette (Bild: BOSF)

Dass Arten-, Regenwald und Klimaschutz eng miteinander verbunden sind leuchtet schnell ein. Die Zerstörung des Regenwaldes ist der Grund, wieso der Zustrom an Orang-Utans in unsere Rettungsstationen nicht abbricht. Umgekehrt gilt aber auch, dass die beste Rettung und Rehabilitation nur wenig Sinn macht, wenn keine sicheren Auswilderungsgebiete zur Verfügung stehen. BOS geht hier innovative Wege, erwarb Lizenzen vom indonesischen Staat, um Waldgebiete für Naturschutzzwecke zu nutzen. BOS forstet riesige zerstörte Gebiete auf, um wilde Populationen zu schützen und neuen Lebensraum zu schaffen. Und BOS arbeitet eng zusammen mit der lokalen Bevölkerung rund um die eigenen Rettungsstationen und die Auswilderungsberiete.

 

Ein jahrelanger Lernprozess steckt hinter alldem und die Erkenntnis, dass der Ansatz holistisch sein muss. Das zu leisten ist eine enorme Herausforderung, der sich BOS als vergleichsweise grosse Institution mit einer 25-jährigen Erfahrung stellt. Oberstes Ziel ist es, vom grössten Primatenschutzprogramm der Welt zum kleinsten zu schrumpfen, d.h. die rund 600 Orang-Utans, die aktuell in den beiden BOS-Rettungsstationen auf ihre Auswilderung warten, schnell und sicher in die Freiheit zu bringen. Und wir sind auf gutem Wege: Seit 2012 wilderte BOS 330 rehabilitierte Orang-Utans wieder aus. Knapp 2.300 Orang-Utans konnte die Stiftung seit ihrem Bestehen retten. Aktuell befinden sich 1500 km2 Regenwald unter der Obhut der BOS Stiftung und werden für Auswilderungen genutzt. BOS verwaltet zudem das Mawas-Schutzgebiet, wo eine der grössten wilden Orang-Utan-Populationen mit knapp 2.500 Tieren beheimatet ist.

Die vier Bauern, die die 130 Schuss auf den Orang-Utan abfeuerten, sind gefasst. Sie haben gestanden und stehen aktuell vor Gericht. In orangenen Häftlingsanzügen werden sie an den Ort des Geschehens geführt, um den Tathergang zu rekonstruieren. Erneut gehen die Bilder um die Welt. Sie haben den grausamen Tod eines Orang-Utans zu verantworten. Wir sind es aber, die hoffentlich eines Tages dafür zur Verantwortung gezogen werden, falls wir das Aussterben dieser Art nicht verhindern.

 

Dr. Sophia Benz

(Geschäftsführerin, BOS Schweiz)

 

Tatort Begehung

Tatort Begehung (Bild: Agence France Presse)